Manfred Herman Schmid
Besonderheiten der Gattungsgeschichte des Requiems und ihr Echo bei Mozart
Das Requiem ist eine Messe und teilt mit ihr Sätze wie Kyrie, Sanctus und Agnus. In der Gruppe von Messen hat es aber einen Sonderstatus. Es hat nichts Sonntäglich-Festliches an sich, sondern thematisiert Bescheidenheit und demütige Buße im Übergang vom Leben zum Tod. Die liturgischen Bindungen an den Totengottesdienst haben seit dem 16. Jahrhundert eine spezifisch Gattungsgeschichte möglich gemacht, deren Kenntnis möglicherweise Wesentliches zum Verständnis des Mozart‘schen Werkes beitragen kann. Das sollte an drei Besonderheiten deutlich werden: der Neigung zu tiefer Lage wie zu harmonischen Wendungen in Richtung der B-Tonarten im Zeichen des humilis, an der Verwendung von einstimmigem Choral und an der besonderen Textform des erst durch die Gegenreformation ins Messformular verbindlich aufgenommene Dies irae, einer Sequenz, die entgegen dem sonstigen Prosatext der übrigen Requiem-Teile in gleichförmigen Versen und Strophen aufgebaut ist. Das hat beträchtliche Konsequenzen für Motivbildung und rhythmische Binnenstruktur bei der Komposition. Schließlich erklärt sich aus der Gattungsgeschichte auch die ungewöhnliche Form mit Rückgriffen bei der Communio auf den Introitus. Allerdings zeigt sich im größeren Kontext auch, dass Süßmayrs Vollendung einem anderen Formkonzept folgte, als es Mozart in Rücksicht auf gültige Traditionen im Sinne hatte. Damit schiebt sich zuletzt ein künstlerisches Konzept vor das ältere liturgische. Entsprechend hat Mozarts Requiem seine Heimat auch primär im Konzertsaal gefunden - was er selbst wohl am allerwenigsten erwartet hätte.
Manfred Hermann Schmid is Professor of Musicology at the Eberhard Karls University of Tübingen, and author of Mozart in Salzburg (2006). He founded the journal Mozart Studien, of which he is also editor.